Kritik der verstehenden Vernunft
Eine Grundlegung der Geisteswissenschaften
Zusammenfassung
Die Beliebigkeit, die für die Geisteswissenschaften zu Anfang des 21. Jahrhunderts kennzeichnend ist, hat viele Ursachen. Eine zentrale ist das Fehlen von Klarheit hinsichtlich grundlegender Begriffe, Methoden und Aufgaben dieser Wissenschaften. Die Beseitigung dieses Mankos unternimmt Vittorio Hösle mit seinem neuen großen Buch. Insbesondere geht es ihm darum, die Möglichkeit intersubjektiv gültigen Verstehens aufzuzeigen. Denn das Bestreiten dieser Möglichkeit, wie es postmodern gang und gäbe geworden ist, gefährdet die Geisteswissenschaften bis ins Fundament. Hösles Ausführungen setzen mit der Erkenntnis ein, dass zwischen dem Verstehen von Aussagen in der eigenen Muttersprache und den akrobatischen Interpretationsleistungen, die etwa der Entzifferer einer verschollenen Schrift vollbringt, zwischen Lebenswelt und Geisteswissenschaft also, eine erstaunliche Kontinuität waltet. Dabei geht er davon aus, dass die Hermeneutik eine Unterdisziplin der Erkenntnistheorie und daher normativ ausgerichtet ist – es geht in ihr darum, richtiges Verstehen von Missverstehen zu unterscheiden. Denn man kann nicht nur anders, man kann auch besser oder schlechter verstehen, ja, auch etwas völlig missverstehen. Doch Hösles Buch bietet nicht nur eine ausführliche, von Kant inspirierte Analytik und Systematik der komplexen Akte des Verstehens unter Berücksichtigung etwa auch der Jurisprudenz und der Theologie. Ebenso unterzieht es einseitige hermeneutische Theorien der Kritik, darunter auch Freuds Psychoanalyse. Ein abschließender Teil bietet eine kurze Geschichte der Hermeneutik von der Antike bis Gadamer und Davidson mit einem Ausblick auf die Geisteswissenschaften der Zukunft.
- 2–12 Titelei/Inhaltsverzeichnis 2–12
- 13–19 Vorwort 13–19
- 19–333 1. Analytik des Verstehens 19–333
- 19–49 1.1. Formale Kennzeichen des Verstehens 19–49
- 1.1.1. Einleitende Begriffsklärungen: Verstehen, Auslegen, Deuten, Interpretieren, Hermeneutik, Geisteswissenschaften
- 1.1.2. Universalität des Verstehens?
- 1.1.3. Die besondere Schwierigkeit, Verstehen zuerklären. Der Behaviorismus als Kurzschlußreaktion. Eine Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens als Ausweg aus dem Zirkel
- 49–281 1.2. Gegenstände und Akte des Verstehens 49–281
- 1.2.1. Die Stufenordnung des Mentalen
- 1.2.1.1. Eigenschaften des Mentalen. Das Problem des Unbewußten
- 1.2.1.2. Formen der Intentionalität
- 1.2.1.3. Formen der Rationalität
- 1.2.2. Ausdrucksformen des Mentalen
- 1.2.2.1. Der Ausdruck von Affekten und Emotionen
- 1.2.2.2. Die Handlung als Ausdruck von Mentalem
- 1.2.2.3. Das Werk als Ausdruck von Mentalem
- 1.2.2.4. Die sprachliche Äußerung als Ausdruck propositionaler Einstellungen
- 1.2.2.4.1. Sprache als nicht-natürliches Zeichensystem
- 1.2.2.4.2. Der Weg von Signalen zu einem nicht-natürlichen Zeichensystem
- 1.2.2.4.3. Sprache als willkürliches Zeichensystem
- 1.2.2.4.4. Die Funktionen der Sprache und die Natur von Sprechakten
- 1.2.2.4.5. Die Abweichungen der menschlichen Sprache von dem Ideal einer logischen Kunstsprache: Nicht-verbale Kommunikation; indirekte Mitteilung; die poetische Funktion der Sprache
- 1.2.3. Verstehen der Ausdrucksformen des Mentalen
- 1.2.3.1. Formen des Verstehens: Perzeptuelles, noetisches und noematisches Verstehen
- 1.2.3.1.1. Zum perzeptuellen Verstehen. Prinzipien der Textkritik. Perzeptuelles Verstehen und ästhetischer Genuß
- 1.2.3.1.2. Zum noetischen Verstehen. Theoretisches, widerhallendes und sympathetisches Verstehen. Internes und externes noetisches Verstehen
- 1.2.3.1.3. Zum noematischen Verstehen. Explizites und impliziertes Noema. Jemanden besser verstehen, als er sich selbst versteht. Produktive Mißverständnisse
- 1.2.3.2. Direktes und erschließendes Verstehen. Verstehen und Erklären
- 1.2.3.3. Verstehen der vier Ausdrucksformen des Mentalen
- 1.2.3.3.1. Verstehen des Ausdrucks von Affekten
- 1.2.3.3.2. Handlungsverstehen
- 1.2.3.3.3. Werkverstehen
- 1.2.3.3.4. Sprachverstehen
- 1.2.3.4. Wann muß Verstehen sich an der Autorintention orientieren, wann darf oder muß es sie überschreiten?
- 1.2.3.4.1. Beispiele legitimen und illegitimen Überschreitens der Autorintention
- 1.2.3.4.2. Das besondere Problem des Auslegens von mehreren Autoren verfaßter, zumal autoritativer Texte
- 1.2.3.4.2.1. Jurisprudenz
- 1.2.3.4.2.2. Theologie
- 1.2.3.5. Die Verflechtung der Geisteswissenschaften mit den anderen Wissenschaften
- 1.2.3.6. Deuten der Wirklichkeit und der Geistesgeschichte
- 281–333 1.3. Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens. Transzendentalphilosophie und objektiver Idealismus 281–333
- 1.3.1. Transzendentale Ästhetik der Hermeneutik: Was wahrgenommen werden muß, damit Verstehen möglich ist
- 1.3.2. Transzendentale Logik der Hermeneutik: Unterstellung von Rationalität
- 1.3.3. Transzendentale Pragmatik der Hermeneutik: Unterstellung von Rationalität zweiter Ordnung und Kooperationswille
- 333–403 2. Dialektik des Verstehens 333–403
- 333–340 2.1. Behavioristische Hermeneutik. Die Fokussierung auf das Verhalten bei Quine 333–340
- 340–370 2.2. Noetische Hermeneutik. Die Fokussierung auf das Erleben bei Dilthey 340–370
- 2.2.1. Die Ursachen des mentalen Lebens. Quellen und die Absicht zu wirken
- 2.2.2. Die unbewußten Ursachen: Freuds psychoanalytische Hermeneutik
- 2.2.3. Die Wirkungen des mentalen Lebens. Gadamers Projekt
- 370–403 2.3. Noematische Hermeneutik 370–403
- 2.3.1. Legitimer und illegitimer Anachronismusvorwurf
- 2.3.2. Leo Strauss' Verfolgungshermeneutik
- 2.3.3. Werk ohne Subjekt
- 403–481 3. Eine kurze Geschichte der Hermeneutik 403–481
- 403–440 3.1. Antike und Mittelalter: Wahrheit statt Sinn 403–440
- 3.1.1. Warum es in der klassischen Antike keine philosophische Hermeneutik gibt
- 3.1.2. Interpretation autoritativer Texte, zumal der Bibel
- 3.1.3. Augustinus' Synthese von Zeichenphilosophie und Bibelhermeneutik
- 3.1.4. Mittelalterliche Innovationen
- 440–467 3.2. Das Verstehen von Sinn unabhängig von seiner Wahrheit 440–467
- 3.2.1. Spinozas Revolution der biblischen Hermeneutik
- 3.2.2. Die Herausforderung des Historismus
- 3.2.2.1. Von Vico zu Schleiermacher
- 3.2.2.2. Die Selbstaufhebung des Historismus bei Dilthey
- 467–476 3.3. Die Wiedergewinnung der Wahrheitsdimension der Hermeneutik bei Gadamer und Davidson 467–476
- 476–481 3.4. Die Geisteswissenschaften der Zukunft 476–481
- 481–504 Anhang 481–504
- 481–497 Bibliographie 481–497
- 497–504 Personenregister 497–504