Der Schleier der Erinnerung
Grundzüge einer historischen Memorik
Zusammenfassung
Erinnern und Vergessen sind grundlegende Prozesse menschlichen Lebens. Wie weit aber reicht die verformende Kraft des Gedächtnisses tatsächlich? Die moderne Geschichtswissenschaft hat sich der Frage bisher kaum gestellt, obschon die Mehrzahl der historischen Quellen auf Gedächtnisleistungen beruht. Die Unzuverlässigkeit des menschlichen episodischen Gedächtnisses erweist sich schon im Hinblick darauf, wie fehlerhaft es die Sachdaten eines Geschehens, den Ort, die Zeit, die daran Beteiligten erinnert und festhält. Diese Unzuverlässigkeit erfordert neue methodische Überlegungen und Zugänge für die historische Quellenkritik.
Johannes Fried erläutert in diesem Buch die Ergebnisse moderner Kognitionswissenschaften und konfrontiert sie mit ausgewählten Beispielen der modernen und mittelalterlichen Geschichte. Sein Ergebnis: Vergangenheit wird in der Gegenwart stets neu geschaffen; unbewußt konstruiert aus unterschiedlichen Elementen erinnerten Geschehens. Wesentlich geprägt durch die Erfordernisse der jeweiligen Gegenwart entstehen scheinbar stimmige Vergangenheitsbilder, die doch in ihren elementaren Aussagen erheblich vom tatsächlich Geschehenen abweichen können. Jede Erinnerung und damit jede Quelle ist deshalb auf ihre Gegenwart hin zu befragen, um sie beurteilen zu können. Am Ende stehen neue Regeln für den Umgang mit Geschichte.
- 1–12 Titelei/Inhaltsverzeichnis 1–12
- 13–56 I. Vier Fälle 13–56
- 1.1 Einleitung: Wahrnehmung, Erinnerung, Wissen und Wirklichkeit
- 1.2 Der erste Fall: Ein Präsidentenberater
- 1.3 Der zweite Fall: Zwei Physiker
- 1.4 Der dritte Fall: Ein Philosoph im kulturellen Leben
- 1.5 Der vierte Fall: Ein Fürst
- 1.6 Konsequenzen: Irritation der Wirklichkeit durch Erinnerung
- 1.7 Primäre und sekundäre Verformungsfaktoren des Gedächtnisses
- 57–79 II. Das Schweigen der Forschung: Die Mediävistik als Beispiel 57–79
- 80–152 III. Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft 80–152
- 3.1 Gedächtnistypen
- 3.2 Vom Individuum zum Kollektiv: Kulturelle Transmission des Wissens
- 3.3 Ethologie und kognitive Verhaltensforschung
- 3.4 Ein kurzer Blick in die Evolution des Gedächtnisses
- 3.5 Experimentelle Gedächtnispsychologie
- 3.5.1 Wahrnehmung und Bewußtsein
- 3.5.2 Die Wirklichkeitsversuche William Sterns
- 3.5.3 Psychische Konditionierung der Erinnerungen
- 3.5.4 Vergessen
- 3.6 Einsichten durch Neurobiologie und Neuropsychologie
- 3.6.1 Zur Vorgeschichte der Fragestellung
- 3.6.2 Neuronale Grundlagen des Gedächtnisses
- 3.6.3 Reiz- (Informations-)Verarbeitung des Hirns und neuronale Netze
- 3.6.4 Die Arbeitsweise des Gedächtnisses
- 3.7 Sprache als Stabilisator der Erinnerung
- 3.8 Wirklichkeit und Sprache
- 3.9 Gedächtnis als konstruktiver Prozeß
- 3.10 Die Wahrnehmung – ein Erinnerungsprozeß
- 3.11 Neurokulturelle Gedächtnisforschung
- 3.12 Ergebnisse und Folgerungen für die geschichtswissen-schaftliche Praxis
- 153–172 IV. Zwischen Hirn und Geschichte: Implantierte Erinnerungen 153–172
- 4.1 Scheinrealitäten in der Geschichte und im kulturellen Gedächtnis
- 4.1.1 Venedigs Sieg über Friedrich Barbarossa
- 4.1.2 Karl der Große: Ein heiliger Kaiser?
- 4.2 Die schwierige Suche nach erinnerter Wirklichkeit
- 173–200 V. Wie zuverlässig sind Erinnerungen? Das Mittelalter als Untersuchungsfeld 173–200
- 5.1 Die Erinnerungsfähigkeit von Prozeßzeugen
- 5.1.1 Der Grenzstein von Marzano
- 5.1.2 Ein Streit um das Val di Lago di Bolsena
- 5.1.3 Der Prozeß um die Grafschaft im Val Blenio
- 5.2 Die Erinnerungsfähigkeit von Verwandten
- 5.2.1 Dhuoda
- 5.2.2 Thietmar von Merseburg
- 5.2.3 Hermann der Lahme
- 5.2.4 Fulco von Anjou
- 5.2.5 Lambert von Watterlos
- 5.3 Die Irrwege der Erinnerung setzen der Erkenntnis Grenzen
- 201–222 VI. Das Gedächtnis mündlicher Kulturen I: Erfahrungen der Ethnologie 201–222
- 6.1 Unberechtigte geschichtswissenschaftliche Skepsis gegenüber der Ethnologie
- 6.2 Ein Streit um Knochen: Die Mißdeutung des Neandertalers
- 6.3 Überschreibungen in den Erinnerungen schriftloser Kulturen
- 6.4 Interkulturelle Vergleiche
- 6.5 Strukturelle Amnesie
- 6.6 Traditionen werden erfunden
- 6.7 Stabilisatoren des Gedächtnisses
- 223–291 VII. Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II: Erfahrungen der Mediävistik 223–291
- 7.1 Die Spur der Gedächtnismodulation in historischen Quellen
- 7.2 Die Entdeckung der Mündlichkeit
- 7.3 Spurensuche im Reich der Mündlichkeit: Die «Germania» des Tacitus
- 7.4 Das Gedächtnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit
- 7.4.1 «Lügenfeld»: Ritual statt Schrift
- 7.4.2 Königssalbung: Überschreibungen im kulturellen Gedächtnis
- 7.4.3 Die Herkunft der Langobarden: Teleskopie in Aktion
- 7.4.4 «Chiavenna»: Ein inversives Implantat?
- 7.5 Wie weit reichen mündliche Traditionen in die Vergangenheit zurück?
- 7.5.1 «Sagen»
- 7.5.2 Die Amaler-Genealogie als Prüfstein
- 7.5.3 Die Formbarkeit des Herkunftswissens im frühen Mittelalter
- 7.5.3.1 Überlieferung
- 7.5.3.2 Verschriftung
- 7.5.3.3 Wiederholte Neuschöpfungen
- 7.5.3.4 Mutationen der Dietrich-«Sage»: Von der Schrift zur Mündlichkeit
- 7.6 Das endlose Fließen mündlicher und schriftlicher Überlieferung im Mittelalter
- 292–332 VIII. Stabilisierungsstrategien von Erinnerungskulturen und deren Grenzen 292–332
- 8.1 Stabilisierung mündlicher Erinnerung durch die Sprache
- 8.2 Grenzen sprachlicher Stabilisierung: Zum Beispiel die irischen «filid»
- 8.3 Textstabile und textvariable Überlieferung
- 8.4 Autoritatives Gedächtnis
- 8.5 Kanonbildung
- 8.5.1 «Machet einen Zaun um das Gesetz»: Kanon, institutionalisierte Lehre und Gedächtnis
- 8.5.2 Moderne Bibelkritik
- 8.5.3 Das Vergessen des Nicht-Kanonisierten
- 8.6 Die Schrift als modulationsbereiter Stabilisator der Erinnerung
- 8.7 Sophistik, Rhetorik, logisches Denken
- 8.8 Die Anfänge der Geschichtsschreibung
- 8.9 Nur eine begrenzte Leistungskraft der Gedächtnis-Stabilisatoren
- 333–357 IX. Gedächtnis in der Kritik: Chlodwigs Taufe und Benedikts Leben 333–357
- 9.1 Chlodwigs Taufe
- 9.2 Wer war Benedikt von Nursia?
- 9.3 Resümee
- 358–393 X. Memorik: Grundzüge einer geschichts-wissenschaftlichen Gedächtniskritik 358–393
- 10.1 Auch Historiker vergessen
- 10.2 Die Kulturwissenschaften sind auf interdisziplinäre Gedächtnisforschung angewiesen
- 10.3 Lassen sich Fehlleistungen des Gedächtnisses korrigieren?
- 10.3.1 Der Anfangsverdacht gegen Erinnerungszeugnisse
- 10.3.2 Erste methodische Postulate
- 10.3.3 Kalkulation der Gedächtnismodulation
- 10.4 Erkenntnisgewinn durch Gedächtniskritik
- 394–398 Nachwort 394–398
- 399–400 Anhang 399–400
- 401–447 Anmerkungen 401–447
- 448–448 Abkürzungsverzeichnis 448–448
- 449–505 Bibliographie 449–505
- 506–510 Register der Personen, Völker und mythischen Gestalten 506–510
- 511–512 Register der Orte 511–512